Der Turmalin
Thuran rannte über die Straße, der Ranzen schlug dem Zwölfjährigen
im Takt seiner Schritte auf den Rücken. Jetzt noch links um die Ecke, dann hatte er die
Verfolger abgehängt. Doch da tauchten die anderen zwei vor ihm auf. Thuran saß in der
Falle. Jetzt hatten auch die beiden, die ihn verfolgt hatten, aufgeschlossen und zu viert drängten
sie ihn in Richtung Häuserfront. Thuran wich zurück. Er stolperte
rücklings über die Stufe zur Eingangstür eines Ladens. Thuran rappelte sich hoch
und versuchte es mit einem Grinsen. Der Größte aus der Gruppe ging auf ihn zu, griff
ihn an der Jacke und zog ihn hoch. „Jetzt bist du dran“, sagte
er.
Thuran hörte, wie hinter ihm die Ladentür geöffnet wurde. Der
Junge, der ihn gepackt hatte, blickte schräg über Thurans Schulter nach oben, seine
Mundwinkel senkten sich. „Du lässt sofort den Jungen los“, ertönte es von
hinten. Der Junge schubste Thuran, so dass der sich wieder auf die Treppe setzte, machte dann
aber gleich zwei Schritte zurück. „Haut ab“, rief die Stimme. „Sonst könnt
ihr was erleben.“
Der Anführer spuckte auf den Gehweg. „Kommt“, sagte er zu den anderen
gewandt. „Den kriegen wir noch.“
Thuran spürte, wie er am Arm gepackt und in den Laden hinein gezogen wurde. Er sah dem Mann
mit dem grauen Vollbart ins Gesicht. Er kannte ihn vom Sehen, schon oft hatte er an der
Fensterscheibe des Geschäfts gestanden und die Auslage betrachtet. „Ibrahim
Kurmus – Edelsteine- und Mineralien-Import“ stand an der Ladentür.
„Was wollten die von dir?“, fragte der alte Mann.
„Ach nichts“, erwiderte Thuran. „Sind eben Idioten.“
Kurmus schaute auf den Jungen, dessen große weiße Zähne ihn nun aus dem dunklen
Gesicht anblitzten. Kurmus seufzte und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Du musst
versuchen, mit ihnen klar zu kommen. Auch wenn sie dich ablehnen oder schlecht behandeln. Ich
zeig dir mal was.“
Er nahm den Jungen mit in eine Ecke des Ladens. „Das sind alles Turmaline“, sagte
Kurmus. In Glaskästen und einer Tischvitrine sah man geschliffene Edelsteine in allen nur
denkbaren Farben. Kleine mit funkelnden Facetten, aufrecht stehende Kristalle von
tiefschwarz über verschiedenste Blau- und Rottönungen bis hin zu Sonnengelb oder
farblos und klar. Einige Steine hatten mehrere Farben in sich vereint, waren an einem Ende rot
am anderen grün, wieder andere variierten in völlig anderen Tönen, die in unzähligen
Mischungen ineinander übergingen.
„Das sind alles Turmaline“, wiederholte der Alte. „Es gibt sie in allen
Farben, die du dir vorstellen kannst.“ Er lächelte. „Und egal, welche Farben
zusammenkommen, es sieht immer schön aus.“
Kurmus ging hinter die Tischvitrine, bückte sich und zog eine Schublade auf. Er holte ein
mit Seidenpapier umwickeltes Päckchen hervor. Als er das Papier auseinander faltete, kam
eine runde, in einen silbernen Reif gefasste Scheibe zum Vorschein, durch eine Öse war ein
Lederband gezogen. Die Scheibe bestand aus verschiedenfarbigen ineinander übergehenden
Ringen, überlagert von einem Dreieck, das in abgestuften Schattierungen von innen bis an
den Rand des Runds reichte.
„Eine Turmalinscheibe“, sagte Kurmus. „Sie zeigt uns, wie die Menschen
zusammenleben sollen. Alle Weltkreise friedlich vereint im Geist von drei Prinzipien.“ Er
deutete auf das Dreieck. „Hier unten sind als Grundlagen die Toleranz und die
Verantwortung. Und über allem steht die Liebe.“
Kurmus wandte sich zur Seite, damit der Junge nicht sah, dass seine Augen feucht wurden. Den Anhänger
hatte er seinem Sohn umgehängt, als er eines Tages weinend von der Schule heimkam, so alt,
wie dieser Junge jetzt. Man hatte ihn wegen seines fremden Aussehens verhöhnt. Er hatte ihm
fast die gleichen Worte gesagt und immer geglaubt, die Botschaft sei angekommen. Sein Sohn war
ein guter Schüler, hatte ein Studium begonnen. Dafür war er in die große Stadt
gezogen, die ihn total verändert hatte. Mehr und mehr war er in den Bann der Menschen
geraten, die ihren Glauben für den einzig richtigen hielten, in seinem Namen Hass und
Gewalt predigten. Irgendwann hatte der Anhänger morgens auf dem Küchentisch gelegen,
mit diesem schrecklichen Brief. „Ich habe die ganzen westlichen Lügen von Liebe und
Toleranz durchschaut“, stand da. „Ich habe die wahre Erkenntnis und zu meiner
Bestimmung gefunden.“ Seitdem hatte Kurmus seinen Sohn nicht mehr gesehen. Manchmal fiel
ihm der Satz ein, den seine Großmutter einmal zu ihm gesagt hatte: Es kann schwerer sein,
einen geliebten Menschen an das Leben zu verlieren als an den Tod.
Kurmus sah Thuran an und hängte ihm das Lederband mit der Turmalinscheibe um. „Die
ist für mich?“, stammelte der Junge. Der alte Mann nickte. „Der Stein soll dich
immer dran erinnern, dass es nur einen richtigen Glauben gibt - nämlich, dass alle
Menschen friedlich und respektvoll miteinander leben sollen.“ Kurmus fasste den Jungen an
den Schultern. „Egal, welche Hautfarbe sie haben.“
Thuran überlegte einen Moment. „Sie haben gedacht“, setzte er an, „Sie
haben gedacht, die waren wegen meiner Hautfarbe hinter mir her?“ Er schüttelte den
Kopf. „Das sind Lautern-Fans. Auf dem Schulhof habe ich gerufen“ – er bildete
mit den Händen einen Trichter vor dem Mund und skandierte – „Eff-Ce-Ka, für
immer zweite Liga. Eff-Ce-Ka, für immer zweite Liga. Und dann …“
Zwischen Kurmus’ Brauen zeichnete sich eine Zornesfalte ab. Thuran zog die Schultern hoch
und streckte entschuldigend seine Handflächen nach oben. „Aber ich bin doch
Bayern-Fan.“
Jörg Staiber